Zeitgefühl
Jetzt sind wir gerade mal eine Woche unterwegs, es kommt mir lang vor, erste Unzufriedenheit macht sich breit. Nach einem sehr schönen, zügigen Segeltag, wir haben S. Benedetto oder weiter südlich als Tagesetappe gerechnet, schlaft der Wind so gegen halbsechs ein. Wir legen uns vor S. Georgio vor Anker, ich befürchte wieder eine rollende, unruhige Nacht, hab auch das Gefühl, dass wir gar nicht weiter kommen und Griechenland in weiter Ferne ist. Auch hängen mir noch einige bürokratische Abwicklungen aus der Arbeitswelt nach und ich vermisse die bestätigenden Mails. Es ist aber auch erst eine Arbeitswoche vergangen, da werden meine Papiere auf irgendwelchen Aktenstößen ruhen und der Bearbeitung harren. Also zusammengefasst ist eine Woche lang und kurz zugleich und mein Zeitgefühl durcheinander.
Mir scheint auch, dass ich doch noch sehr nach meinem alten Zeitmanagement ausgerichtet bin. Da hat jeder Tag seine Aufgaben, die im Kalender eingetragen sind und freie Tage sind die Lücken zwischen den Terminen. Mein letzter eingetragener Termin ist mein Abschiedsfest am 29.5. in Scheibbs, ab da ist mein Kalender leer. Und jetzt? Fehlen mir die Fixpunkte an denen sich mein Zeitgefühl orientiert? Brauch ich einen Kalender und vorgegebene Zeiten in denen was erledigt oder geschafft sein soll? Wie lange darf man bis Griechenland brauchen? Wir hatten ursprünglich mit zwei Wochen gerechnet, das geht sich wahrscheinlich auch aus. Ist das aber wirklich wichtig, oder schränkt uns das neuerlich ein. Manchmal scheint es mir, brauchen wir diese Beschränkungen um uns nicht in der Zeit zu verirren und zu verlieren, fehlt uns scheinbar die Orientierung. Eine Herausforderung im hier und jetzt, mit wagen Zeitvorstellungen und Grenzen, die uns der Wind vorgibt, mit denen wir mitgehen müssen, die wir nicht bestimmen können, sonst leben wir gegen den Rhythmus. Die Unzufriedenheit ist der Kampf zwischen konkreten Vorstellungen und einschränkenden Bedingungen, das akzeptieren müssen von Änderung, Kursänderung und Zielen.
Die Umstellung wird hier an der italienischen Küste deutlich, die Herausforderung bei so viel Neuem eben doch nicht zu unterschätzen.
Zeitgefühl, mir fehlt die Vorstellung von jetzt bin ich weg, eben auf Reisen in dieser anderen Welt. Bin ich für immer weg? Wie lange sind 5 Monate, was wird sich in dieser Zeit verändern, was bleibt gleich? Sind meine Gedanken und mein Fühlen doch noch sehr in der Arbeitswelt verhaftet? Es ist gerade mal eine Woche in der ich nicht hunderte km fahre und mein Büro mit Laptop durch den Tag schleppe. Eine spannende Veränderung, einlassen und mal sehn was der neue Tag bringt.
Der nächste Tag könnte eine Wiederholung des eben beschriebenen sein. Wir fahren bei gutem Wind los, er lässt am Nachmittag nach und schläft so gegen fünf Uhr ein. Wir fahren näher an die Küste ran und ankern vor einem kleinen Hafen der zu einem Campingplatz gehört. Rundherum stehen noch einige Hotels, am Strand die üblichen geometrischen Felder von Schirmen, in grün, rot und blau gehalten, der dazugehörige Ort scheint am nächsten Hügel oben zu liegen. Pescaro, welches wir eigentlich gestern erreichen wollten liegt noch 18 Meilen vor uns, bei gutem Wind drei Stunden. Unter tags genießen wir die ruhige Fahrt und beginnen uns durch die mitgenommenen Zeitschriften zu schmökern. Kurze Artikel mit leichtem Inhalt zum eingewöhnen, zu einem Buch, womöglich mit wissenschaftlichem Inhalt kann ich mich noch nicht aufraffen.
Was Wind und unser Reisetempo betrifft scheint sich jetzt eine gewisse Regelmäßigkeit einzustellen, ca. 8 Stunden segeln, dann Ankerplatz suchen, kochen, gut essen und den Abend bei einem Sundowner und Musik gemütlich ausklingen lassen. Und am nächsten Tag erwarten wir uns ähnliches, eher wenig Wind, einige Meilen werden wir die Küste Richtung Süden kommen, dann vielleicht ein Ort um frische Lebensmittel einkaufen zu gehen und den Müll zu entsorgen, ein guter Cappuccino in einem italienischen Café, den Ort auf uns wirken lassen, das war`s. Aber eins ist fix, welcher Ort es sein wird lassen wir besser offen, vielleicht Pescaro, vielleicht aber auch wo anders.
Mit dem Auto hätten wir schon einiges im Hinterland abgefahren, viele Orte gesehen und fotografiert, da wären in einer Woche tausende Kilometer auch kein Problem. Wir schaffen jetzt pro Tag etwa 50 - 60 km, da tut sich nicht viel was zu berichten lohnenswert ist. Die Fähnchen gibt es in unterschiedlichen Größen, teilweise mit Nummern. In der Früh um 6 Uhr sind Unmengen von Fischkuttern Richtung Süden gefahren, um 9 Uhr wieder zurück Richtung Norden. Eine Großfischaktion um das Meer wirklich leer zu kriegen, eine Demonstration für mehr Fischerrechte oder eine Prozession für weiteres Fischerglück, wir wissen es nicht. Um 10 Uhr beobachten wir noch wie an unserem kleinen Hafen, vor dem wir liegen, einige der Boote ihre Fracht auf LKWs umladen. Also doch leer fischen? Es ist Flaute bis 11 Uhr macht es keinen Sinn loszufahren. Die Zeit lässt sich nutzen um die letzte Reffleine einzuscheren, es gibt immer Kleinigkeiten zu tun. Aber wirklich wichtiges, Dinge die auch im Arbeitsalltag interessieren, passieren nicht. Neue Ziele sind eben noch nicht erreicht.
Auch das ist ungewohnt. Unser nächster geplanter Stop mit Landausflug wird von Bari oder Monopoli aus sein, also in 3 oder 4 Tagen, soviel zu Zeit, Zeitgefühl und das Leben in Langsamkeit.
Um mit uns zu reisen reicht es wahrscheinlich so alle zwei Wochen mal auf die Homepage zu schauen, da gibt es vielleicht schon was neues berichteswertes, einige Bilder und ein kurzer Textbericht mit Erlebnissen, Impressionen und Gedanken.
Einblicke in das Erleben von Veränderung, das Leben in einer anderen Welt, einer Reise, die lange ersehnt, erträumt und vorbereitet wurde.
Scheibbs, der Ötscherblick, die gewohnten Wege, die netten alltäglichen Begegnungen, meine Tage im Spital auf der Palliativ und auf der Rettung, meine Ordi und die Patienten, mein stetiger Kontakt und mein Tun fürs Akutteam gehen mir schon ab. Besonders Dienstag, ein immer voller, jedoch meist sehr fröhlicher Arbeitstag in St. Pölten und am Abend fix mein Karate mit Birgit und Tobias. Auch diese Routine hat was Besonderes und Schönes gehabt. Ich bin nicht auf Reisen gegangen weil ich was loswerden wollte, nein ich habe mich von meinem sehr positiven und geschätzten Leben verabschiedet weil sich beides gemeinsam nicht leben und weil die Reise sich sonst in diesem einen Leben vielleicht nicht mehr realisieren lässt. Abschied tut weh, ihr geht mir ab. Robert fragt mich gleich ob ich heute einen Heimwehtag hab. Eigentlich denke ich jeden Tag immer wieder an die Zeit vor der Abreise, es ist auch ein Stück überprüfen, was man erinnert und an welchen Gedanken, Bildern und Personen der Abschied hängt. Und da gibt es ganz vieles, nicht nur Alltägliches, Gewohntes, auch seltene Kontakte haben ihre Wichtigkeit und drängen sich in die Liste der Verabschiedung. Gerade eben fallen mir die Kinder und Roberts Eltern ein, ein kurzer Besuch wenn ich in Graz war, war immer drin. Und viele Erlebnisse, an die ich gerne zurückdenke verbinden. Genauso geht es mir mit Wien. Ich bin schon lange weg aus Wien, eben hatte ich mein 30 jähriges Maturatreffen, in Scheibbs bin ich jetzt schon 20 Jahre, aber jeder Wienbesuch, das Elternhaus, die Geschwister, meine Freundin Gundi und meine Cousine sind Anknüpfungspunkte an viele gemeinsame Jahre. Also auch Abschied.
Einige Erinnerungen hab ich ja auch mit bekommen, damit fallen sie mir sowieso jeden Tag auf und erzeugen ein Gefühl der Verbundenheit, vielleicht auch Wehmut und Abschiedsschmerz.
Da sind mein kleiner Akutteambär, der Fender mit all den Unterschriften und unsere zwei Trinkgläser aus denen wir gerne unseren Sundowner trinken. Birgit ist immer mit ihrer kleinen Robbe dabei, sie sitzt auf meinen Büchern und bewacht alles. Und viele andere Erinnerungsstücke sind in Verwendung oder gut verstaut.
So gibt es keinen Heimwehtag, sondern Momente der Erinnerung mit allen dazu gehörenden Gefühlen.